Ein neoliberaler Popanz
Von verhartzt, 02:06Ein kleiner Exkurs in die Welt der öffentlichen Manipulation durch die Medien am Beispiel der Berliner Zeitung
Der Kommentar „Stagnation mit der großen Koalition“ von Werner Gegenbauer in der Berliner Zeitung vom 08.07.06 offenbart einmal mehr, woran Deutschland wirklich leidet: Es ist die ständige mediale Verbreitung solcher neoliberaler, völlig unsinniger und größtenteils schlichtweg falscher Scheinargumente und Manipulationsversuche.
Gegenbauer vertritt noch immer die These, es existiere beispielsweise in Bezug auf das Renten- oder Gesundheitssystem ein „Ausgabeproblem“, während es doch offensichtlich ist, dass es in Wahrheit aufgrund des massiven und ständig fortgesetzten Arbeitsplatzabbaus bei gleichzeitigen milliardenschweren Steuergeschenken an die Wirtschaft ein Einnahmeproblem ist, das unsere Gesellschaft und den Staat belastet und erheblich bedroht. Angesichts dieser Problematik ist es geradezu zynisch, dass Gegenbauer hier eine generelle Leistungskürzung als „Lösung“ fordert. Eben diese Leistungskürzungen, die der gesamten Bevölkerung in den vergangenen Jahren in immer stärkerem Maß zugemutet wurden und auch weiterhin fortgesetzt werden, sind doch verantwortlich für die nachlassende Binnennachfrage, die zunehmende soziale Spaltung und – auch „Hartz IV“ sei’s gedankt – die massenhafte Verarmung von Millionen von Menschen. Die Rentenzahlungen sinken ebenso wie die Löhne seit Jahren; die finanziellen Mehrbelastungen nicht nur im Gesundheitssystem sind für die Bürger erheblich gestiegen und sollen auch weiterhin massiv steigen, die desaströsen Folgen der „Hartz“-Gesetze sorgen für weit verbreitete Armut, eine unkontrollierte Ausbreitung von „Niedrigstlohnjobs“ auch für gut Ausgebildete und Akademiker und die Verdrängung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze durch „Ein-Euro-Jobs“. Gebracht hat das alles nichts. All diese „Reformen“, die man eher „Deformationen“ nennen müsste, haben die Lage stattdessen weiter verschärft und verschlimmert.
Folgt man Gegenbauers kruden Gedankengängen, liegt das jedoch in erster Linie an einer in Deutschland angeblich herrschenden „Anspruchsmentalität“. Die Frankfurter Rundschau hat ein solches Menschenbild treffend als „Sozialzynismus“ bezeichnet – ein Wort, das auch Gegenbauers Kommentar vorzüglich illustriert. In diesem neoliberalen Gesellschaftsbild, in dem einem Großteil der Menschen zunächst die finanzielle Grundlage entzogen wird, um sie danach zynisch in die „Eigenverantwortung“ zu entlassen, ist kein Raum mehr für Toleranz, Solidarität, Fairness oder paritätisches Denken. Es stünde dem Kommentator gut zu Gesicht, wenn er noch etwas deutlicher geschrieben hätte, wie die Gesellschaft nach seiner Meinung „funktionieren“ solle – frei nach dem Motto: „Wenn jeder nur an sich selber denkt, kommt doch keiner zu kurz.“
Diese ständige Propagierung des puren Egoismus’ (der selbstverständlich ein „alternativloser Weg“ sei) ist einer der Gründe für den Niedergang unseres Rechts- und Sozialstaates und die Entsolidarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen. Da passt es wunderbar ins Bild, dass Gegenbauer eine wundervolle Lösung parat hat: Die Menschen müssen eben – egal in welchem Bereich – vermehrt „privat vorsorgen“. Man ist versucht zu fragen, ob der Verfasser dieses Kommentars ganz bewusst verschleiert, dass eine solche „private Vorsorge“ ja nichts grundsätzlich anderes ist als die steuerliche Mehrbelastung der Bevölkerung. An wen der Bürger seine vermehrten Aufwendungen zahlt – ob nun an den Staat oder einen Versicherungskonzern –, dürfte ihm egal sein. Nicht egal ist das allerdings den Konzernen, so dass deutlich wird, wo sich denn die wirklichen (und einzigen) Gewinner einer solchen gebetsmühlenartig immer wieder geforderten „Privatisierung“ befinden.
Auch die Frage, wie all die Armen und Ärmsten unseres Landes eine solche „Privatisierung“ bezahlen sollen, bleibt weiter offen. Gegenbauer gehört offenbar zu den Menschen, die eine notwendige ärztliche Versorgung oder eine auskömmliche Rente nur für einen zunehmend kleiner werdenden Teil der Bevölkerung für wünschenswert und notwendig erachten. Warten wir nun noch auf die Forderung einer Änderung des Grundgesetzes à la Gegenbauer: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sofern er sie sich leisten kann.“
Es verwundert nicht, dass in diesem Kommentar auch die übliche ideologische Behauptung unreflektiert wiederholt wird, sinkende Lohn(neben)kosten würden Arbeitsplätze schaffen. Das Gegenteil ist längst bewiesen. Der riesige „Niedrigstlohnsektor“, der in Deutschland auf Druck der Schröder-Regierung entstanden ist, hat nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern zur Vernichtung angemessen entlohnter Stellen geführt. Schon Ende 2005 befand Hartmut Reiners, Leiter des Referats Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg: „Aber auch wenn man die Lohnnebenkosten als eigenständigen Wettbewerbsfaktor betrachtet, gibt es keine belastbaren empirischen Belege für die Behauptung, die Höhe der Sozialabgaben schädige den Standort Deutschland. Man findet eher Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei um einen Popanz handelt (…).“
Dieses treffliche Wort bezeichnet auch die gesamte neoliberale Ideologie, die sich verkürzt so darstellen lässt: „Gebt alles Geld den Konzernen, reduziert den Staat auf ein reines Bürgerüberwachungssystem und überlasst die Menschen ansonsten sich selbst und dem Markt. So wird Wohlstand und Reichtum für alle entstehen.“ – Ja, das ist, ebenso wie Gegenbauers Kommentar, wahrlich nichts weiter als ein – allerdings brandgefährlicher – Popanz.
Es stellt sich nun die Frage nach den Motiven, die den Kommentator bewegt haben mögen, die neoliberale Ideologie so plump und erkenntnisresistent weiterhin zu verbreiten. Standen Werbekunden oder Anteilseigner der Berliner Zeitung mit gezogenen Colts hinter seinem Schreibtisch? – Weit gefehlt, denn Werner Gegenbauer ist Unternehmer (die Gegenbauer Holding SA & Co. KG und ihre Tochterfirmen erzielten im Jahr 2005 einen Gesamtumsatz in Höhe von 300,5 Millionen Euro) und Ehrenpräsident der Industrie- und Handelskammer Berlin. Dass es stets die Reichen sind, die die Vermehrung des Geldes auf ihren eigenen Konten auf Kosten der Bevölkerung propagieren, die stetig weniger verdienen, dafür aber mehr arbeiten und mehr bezahlen soll, ist ja nichts Neues. Ebenso wenig verwundert es, dass ein Unternehmer die milliardenschweren Steuergeschenke des Staates an die Wirtschaft gut heißt. Die zunehmende Schamlosigkeit solcher ungerechter, unsozialer und gefährlicher Forderungen aber entblößt einmal mehr die hässliche Fratze des Kapitalismus, die unsere Medien willfährig und manipulierend unters Volk bringen. Die Berliner Zeitung steht da nur stellvertretend für den Niedergang des Journalismus und die Aushebelung der Kontrollfunktion einer längst nicht mehr freien Presse.