Sozialgerichtsgebühren
Von verhartzt, 14:52Oder: Das pervertierte Menschenbild der politischen „Elite“
Der Bundesrat hat bereits am 23. März einen Gesetzentwurf zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht (Bundestags-Drucksache 16/1028). Ziel dieses Gesetzes ist die Einführung von generellen Sozialgerichtsgebühren. Diese sollen nach dem Willen der Initiatoren, die sich unter anderem auf die Präsidenten der Landessozialgerichte und den Präsidenten des Bundessozialgerichts berufen, wie folgt gestaffelt werden: 75,00 € sollen für das Klageverfahren (Sozialgericht) fällig werden, 150,00 € für das Berufungsverfahren (Landessozialgericht) und 225,00 € für das Revisionsverfahren (Bundessozialgericht).
Was bedeutet das nun in der Praxis? Sollte dieses Gesetz tatsächlich verabschiedet werden, hieße das für alle, die sich gegen behördliche Willkür, Amtsanmaßungen oder rechtswidrige Behördenbescheide und -handlungen zur Wehr setzen müssen, dass sie das grundgesetzlich verbriefte Recht auf uneingeschränkten Zugang zur Gerichtsbarkeit nur dann wahrnehmen könnten, wenn sie über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Gerade die Sozialgerichte verhandeln aber häufig Fälle, in denen es um die Nichtauszahlung beispielsweise des Arbeitslosengeldes II (euphemistisch auch „Grundsicherung“ genannt) geht. In einer konkreten Situation, in der das Arbeitsamt nicht gezahlt hat, soll nun der Arbeitslose noch zusätzlich Geld aufbringen, bevor er überhaupt die Möglichkeit erhält, Klage gegen das Amt wegen der Nichtzahlung der „Grundsicherung“ führen zu können.
Wie pervertiert muss ein Menschenbild eigentlich sein, damit Politiker sich solche Gesetzestexte ausdenken können? Im Entwurf heißt es dazu: „Ein weiteres Festhalten an der Gebührenfreiheit für den genannten Personenkreis [das sind Versicherte, Leistungsempfänger und Behinderte, Anm. d. Verf.] ist aber weder aus verfassungsrechtlicher Sicht erforderlich noch aus sozialpolitischen Gründen wünschenswert.“ Nach Meinung des Bundesrates ist es also kein Problem, wenn das Grundgesetz einmal mehr verbogen und ausgehöhlt wird. In Artikel 19, Absatz 4 Grundgesetz heißt es: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Einschränkungen sind dort nicht genannt. – Dass eine Gebührenfreiheit für unfreiwillig arbeitslos gewordene und danach vom Staat gezielt in die Armut getriebene Menschen angesichts des vorherrschenden politischen Sozialzynismus, der einstmals „Sozialpolitik“ hieß[1], nicht wünschenswert ist, verwundert dagegen wenig.
So ist der Begründung des Gesetzentwurfes zu entnehmen, dass man sich Sorgen über die dramatische Zunahme der Klageverfahren vor den Sozialgerichten seit dem 1. Januar 2005 macht. Selbstverständlich führt man das aber nicht auf „Hartz IV“ und die damit verbundene und vielfach belegte massenhafte Behördenwillkür zurück, sondern auf die Gebührenfreiheit. Nicht das Grundrecht eines jeden Bürgers in diesem Land steht hier im politischen Mittelpunkt, sondern erklärtermaßen nur die „Reduktion der Klageverfahren“. Einmal mehr wird hier ein Menschenbild deutlich, das sämtliche Bevölkerungsgruppen – und die Ärmsten ganz besonders – als potenzielle Betrüger pauschal unter Generalverdacht stellt, obwohl es längst statistisch belegt ist, dass die Mehrzahl der Klageverfahren erfolgreich verläuft.[2]
Die Vorgehensweise ist dabei dieselbe wie bei „Hartz IV“ inklusive dem ab dem 1. August geltenden Verschärfungsgesetz: Wenn es nach Ansicht der Politik zu viele Menschen gibt, die Leistungen beantragen bzw. ihr Recht vor Gericht einklagen müssen, dann wird eben der Zugang zum Arbeitslosengeld II bzw. zur Gerichtsbarkeit erschwert. Und auf das „Fortentwicklungsgesetz“ bezogen bedeutet das: Wenn die Sozialgerichte seit 2005 zu oft für die Bedürftigen und gegen die Behörden entscheiden, verschärft man kurzerhand das Gesetz, so dass die Gerichte das nicht mehr tun können. So einfach ist das heute in Deutschland. Nicht die Ursachen für Arbeitslosigkeit bzw. vermehrte Klagen vor den Sozialgerichten werden bekämpft, sondern die betroffenen Menschen. Wieder einmal werden in Deutschland die Opfer zu Tätern gemacht – aber diesmal wird der scheinbar „demokratische Weg“ beschritten, um dieses Ziel zu erreichen.
In einer Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Gesetzentwurf heißt es lapidar: „Die Bundesregierung hält es für erforderlich, dass die gesamten Auswirkungen des Gesetzentwurfs des Bundesrates durch eine breit angelegte Untersuchung geprüft werden. / Die Bundesregierung wird diese Prüfung im Laufe des weiteren Gesetzgebungsverfahrens durchführen.“
Na dann. Wenn die große Koalition hier genauso gewissenhaft prüft und bewertet, wie das beispielsweise bei „Hartz IV“, den Rentenkürzungen, dem Elterngeld für Reiche, den Steuergeschenken für Unternehmen, der Mehrwertsteuererhöhung, der Föderalismus- und der Gesundheitsreform der Fall war und ist, dürfen wir uns auf einen weiteren Schritt auf dem Weg zum faktischen Abbau des Rechts- und Sozialstaates freuen. Diesmal allerdings wäre es ein wahrhaft ungeheuerlicher Schritt, der die letzte Bastion des Rechtsstaates in dieser Republik – die Sozialgerichtsbarkeit – gerade für die Menschen schier unerreichbar werden ließe, für die sie ursprünglich gedacht war: nämlich Niedriglöhner, Arme, Erwerbslose, Kranke und Behinderte.
Eine solche asoziale Politik nach US-amerikanischem Vorbild hat keinen mehrheitlichen Rückhalt in der deutschen Bevölkerung. Das weiß auch unsere politische „Elite“. Wie ist es erklärbar, dass sich dennoch eine marktradikale „Reform“ an die andere reiht, ohne dass ein wütender Aufschrei durchs Land geht, der diese Leute, die vorgeben, die Interessen des Volkes zu vertreten, in ihre Schranken verweist? Wie viele sozialzynische Unverschämtheiten müssen noch publik werden, bis auch der Letzte erkennt: Diese sozialdemokratisch-christlich-grün-liberale Bande verhökert unser gesamtes Land samt aller unter Blut, Schweiß und Tränen erfochtenen sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften an ein paar gierige Konzerne und schert sich nicht darum, welche unabsehbaren Folgen das für alle haben wird?
Die Antwort auf diese Frage steht noch aus – und es bleibt zu hoffen, dass sie für unsere „Volksvertreter“, die deutlich erkennbar doch nur die Interessen der Wirtschaft sowie sich selbst vertreten, nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen wird. __________________
[1] „Sie haben sich deshalb von Sozialpolitik verabschiedet und auf Sozialzynismus verlegt. Der, wie sie vielleicht unter sich sagen würden, ‚Bodensatz’ der Chancenlosen wird diffamiert, gegen die Leute mit Job ausgespielt, möglichst billig gehalten, vielleicht auch noch zu kostenloser Arbeit gezwungen und in die Resignation getrieben.“ (Frankfurter Rundschau vom 02.06.06)
[2] Ein Beispiel von vielen: „Für den Löwenanteil der Hartz-IV-Kläger hat sich der Weg vors Sozialgericht zudem gelohnt. Claus-Dieter Loets, Sprecher des Sozialgerichts Hamburg: ‚Mehr als 50 Prozent der Anträge haben zumindest zum Teil Erfolg.’ Die Justizbehörde hat mit dem Ansturm auf die Sozialgerichte gerechnet. ‚Wir haben rechtzeitig vorgesorgt’, sagte Sprecher Carsten Grote. Seit Januar sind zehn Richter zusätzlich an den Sozialgerichten tätig – insgesamt 42. Sie kamen ursprünglich vom Verwaltungsgericht.“ (Hamburger Morgenpost vom 04.07.05)